Es gibt im I Ging ein Hexagramm - # 43, DER DURCHBRUCH - das für uns Praktizierende der harten Kampfkünste unmittelbare Assoziationen weckt, gehört es doch zu unseren regelmäßigen Prüfungsritualen, dass wir unser Können beweisen, indem wir auf fantasievolle und herausfordernde Weise Bretter zerschlagen. Bei größeren Turnieren artet das schon mal zu regelrechtem „Holzhacken“ aus. So jedenfalls nannten wir respektlos die scheinbar endlose Folge von Bruchtests, die internationale Kontests begleitete. Was da gezeigt wurde, war schon beeindruckend, oft sogar spektakulär, aber in der Überfülle wurden diese Bretterorgien doch, zumindest mir, langweilig. Und zwar gerade deshalb, weil da Profis am Werk waren, die scheinbar ohne mit der Wimper zu zucken und ohne erkenntlichen Anstieg ihres Blutdrucks ein Brett nach dem anderen kleinmachten.
Hexagramm 43 behandelt nun tatsächlich eine Art Bruchtest, und doch geht es dabei um etwas ganz anderes – dem wir viel näherkommen, wenn wir eine Prüfung im Kindertraining beobachten. Ich entsinne mich eines niedlichen dunkelhaarigen Mädchens, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das die Idee von # 43 exemplarisch ins Bild setzt: Die Kleine steht mit großen Augen verzagt vor dem Brett, das von einem aus ihrer Perspektive ziemlich großen Mann gehalten wird. Zweifelnd schaut sie das Brett an, holt mit ihrem Bein aus und stoppt wieder ab - und bringt so freilich nicht die nötige Wucht auf, es zu zerschlagen. Der Meister kennt die Situation und gibt klare Anweisungen: Nicht bremsen. Zehen anziehen. Zielen! … Sie schlägt einmal, zweimal, dreimal … und droht, den Mut zu verlieren. Dieses kleine Mädchen steht vor einer echten Herausforderung, sie muss eine Hürde überwinden, die vor allem eine innere ist. So eine Prüfung ist eben kein Kinderspiel, es wäre gar keine Prüfung, wenn wir dabei gechillt bleiben könnten. Eine Prüfung will von uns ernstgenommen werden, sie verlangt, dass wir uns zentrieren und zu hundert Prozent da sind.
Wenn muskelbepackte Männer Bruchtests machen, ringt mir das meist sehr viel weniger Respekt ab, als bei so einem zarten Mädchen. Viele machen das Brett ja einfach nur mit Kraft kaputt - ob die Technik nun etwas taugt oder nicht, das Brett hat keine Chance. Wenn sie dasselbe leisten sollen wie dieses kleine Mädchen, dann muss der Prüfer die Messlatte schon ein bisschen höher legen. Bei zwei, drei, vier Brettern ist es vorbei mit der Leichtigkeit, da wird es für jeden ernst.
Schauen wir uns den Strichcode von # 43 an: Da sehen wir fünf starke, nach oben drängende Yang-Linien, denen auf ihrem Weg zum DURCHBRUCH nur noch eine Yin-Linie im Weg steht, eigentlich ein lächerlicher Widerstand, allerdings ganz oben, in einer entscheidenden Schlüsselposition! Denn auf Höhe von Linie 6 geht es um unsere innere Einstellung, unsere Glaubenssysteme. Und hier herrscht eine Einstellung, die sich als Freund ausgibt, wiewohl sie ein Wolf im Schafspelz ist! Weiterhin setzt sich # 43 aus den beiden Trigrammen Himmel und See zusammen: Unten befindet sich der archetypische Vater (Himmel), darüber seine jüngste Tochter (See): Der starke Papa trägt sein Töchterchen zum Sieg! Er steht hinter ihr, stärkt ihr den Rücken, ermutigt sie, sich den Dämonen zu stellen, welche es auch sein mögen (und manchmal nehmen sie eben die Gestalt eines Bretts an!).
Das kleine Mädchen, das seinen Bruchtest bewältigen muss, steht vor derselben Aufgabe wie das kleine Mädchen in der Bildwelt des Hexagramms. Sie hat einfach „Schiss“, sie traut sich nicht, sie ist doch ein Kind, wie soll sie das denn schaffen? In ihr raunt es: „Das kannst du nicht! Das geht sowieso schief! Die anderen können das vielleicht, aber ICH???“
Die Yin-Linie in der obersten Position beschreibt genau diese demoralisierenden Selbstzweifel, Gedankenkreisel, Vorurteile über uns selbst, die sich im Oberstübchen abspielen und unsere faktisch absolut vorhandene Kraft unterminieren. Da hat ein innerer Saboteur die Macht an sich gerissen und trotzt der Kraft der fünf Yang-Linien, der Kraft des Himmels. Manchmal gewinnt er tatsächlich, manchmal gelingt es seinen falschen Einflüsterungen, die Kraft zu zerstreuen und fehl zuleiten, sodass sie nicht zum Ziel gelangt, sich vielleicht sogar gegen uns wendet: Dann schlägt man immer wieder daneben, tut sich weh, verkrampft sich und ist irgendwann körperlich und moralisch so erschöpft, dass man abbrechen muss. Dann ist man selber kaputt, nicht das Brett. Und die entmutigenden Stimmen haben ihre eigene Wirklichkeit geschaffen…
Und weil wir nicht nur in unserer Kampfkunst immer wieder vor derartigen Herausforderungen stehen, liefert uns der Hexagrammtext eine Art Coaching-Leitfaden, der beschreibt, wie es uns gelingen kann, falsche Selbstbegrenzungen zu durchbrechen und über uns hinauszuwachsen:
DER DURCHBRUCH.
Entschlossen muss man am Hof des Königs
die Sache bekannt machen.
Der Wahrheit gemäß muss sie verkündet werden.
Gefahr! Man muss seine eigene Stadt benachrichtigen.
Das ist ein Aufruf, zu dem zu stehen, was man da tut, und die volle Verantwortung dafür zu übernehmen: „Ja, ich will das, ich will das WIRKLICH! Ich versuche es nicht nur, ich tu’s jetzt! Es ist mir egal, was irgendjemand dazu sagt und ob ihr es mir zutraut, es ist mir egal, wie ich dabei ausschaue, es ist mir egal, dass es das letzte Mal nicht geklappt hat! All das ist mir SCHEISSEGAL!“ Oft sind es tatsächlich solche Kraftausdrücke, die bekunden: Dies ist nicht mehr die Zeit für Formfragen! Ein guter Trainer (wie ein guter Vater) schafft es, dem Prüfling über seine Selbstzweifel hinwegzuhelfen, indem er donnernde Kommandos gibt, die jeden Zweifel zerstreuen, dass ER daran glaubt, dass das kleine Mädchen das Zeug hat, ihrerseits das Brett zu „zerdonnern“. Das Wie seiner Anweisungen - klar, knapp, redundanzlos, die laute Stimme eine Verkörperung jener Entschlossenheit, die gerade gebraucht wird - ist ein Appell zu geistiger Disziplin, den jedes Kind intuitiv versteht. Es bringt die Energie auf den Punkt, es verhilft uns zu hundertprozentiger Konzentration, es sagt uns: Sei JETZT GANZ DA! Vergiss den Blödsinn in deinem Kopf! Da ist das Brett, da ist die Angst - jag sie zum Teufel! Du schaffst das!... Was vernehmbar aus seinem Mund kommt, klingt freilich eher wie „Junbi!!!“ „Kyeokpa!!!“ und „KIHAP!!!“
All diese Ausrufezeichen reißen uns aus dem Halbschlaf unserer unbewussten Selbstgespräche. Und in dem Moment, wo wir aufhören, uns selbst zu zerteilen und entzweien, wo wir aufhören, mit uns zu reden, uns zu beobachten, zu vergleichen, zu beurteilen, in dem Moment, wo wir uns ohne Wenn und Aber bekennen zu dem, was wir wollen, in diesem Moment durchströmt uns eine unglaubliche Kraft. Es ist die Kraft, die eine Mutter befähigt, ein Auto anzuheben, um ihr eingeklemmtes Kind zu befreien…! - Wie bitte soll da so ein armes Brett Widerstand leisten?
Bei alledem beschreibt # 43 keine heroische Glanzleistung. Sein Schwerpunkt liegt nicht auf dem Sieg, sondern auf dem inneren Kampf mit der eigenen Angst, der dem späteren Sieg vorausgeht. Es geht dabei um Mut und Rückgrat, und Mut ist eben nur mutig, wenn er mit der Angst kämpfen muss. Ohne Angst kein Mut. Und in dieser Situation gibt es genug, was uns Angst einjagen kann, gilt es hier doch, Farbe zu bekennen und den Beweis anzutreten. Nun kommt die Katze aus dem Sack: Können wir es oder nicht? Werden wir uns verletzen, werden wir uns tödlich blamieren?...
Hier gilt es eine Schwelle zu überschreiten, jenseits derer wir uns nicht auskennen. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir tatsächlich einmal unsere GANZE Kraft herauslassen, wenn wir uns nicht ständig zügeln, zensieren, kontrollieren. All diese Hemmungen wollen uns zwar schützen und vor Schmerz bewahren, doch sie werden leider allzu oft zu inneren Gefängniswärtern, die unsere Kraft streng wegsperren und als destruktiv verunglimpfen. Damit haben natürlich gerade wir kleineren und größeren „Mädchen“ zu kämpfen, denen man alles Grobe und Aggressive als unweiblich aus ihrem Gehirn gewaschen und abdressiert hat. - Doch täuschen wir uns nicht, auch in jedem erwachsenen Mann und versierten Bretter-Zerkleinerer gibt es so ein inneres kleines Mädchen…
Dr. rer. med. Dipl.-Psych.
Andrea Seidl