Timo Meusel
Qualitäts Manager
Die Distanz wird entweder als „räumlicher Abstand, Zwischenraum, Entfernung“ oder „Zurückhaltung, innerer Abstand im Umgang mit anderen Menschen“ definiert. Beides passt auch gut, wenn es um die Distanz in einer drohenden oder tatsächlichen körperlichen Auseinandersetzung geht. Eigentlich wollen wir Distanz. Distanz vor Gefahr, drohendem Schaden, wir wollen Abstand zu dem Menschen, der uns bedroht. Das ist nicht immer so möglich, wenn man nur an die Flucht - weg vom Gegner - denkt. Im Hapkido haben wir glücklicherweise aber auch eine andere Möglichkeit: die Flucht „nach vorne“, zum Gegner hin. Was im ersten Augenblick vielleicht kontraproduktiv wirkt, stellt sich schnell als gewinnbringende und effiziente Variante der Distanzkontrolle heraus.
Warum ist das so?
Unser Gegner hat ein Ziel, er möchte uns mit seinem Angriff verletzen oder festhalten, vielleicht fixieren. Um das zu tun benötigt er einen gewissen Abstand zu uns. Bei einem Tritt mehr, als bei einem Schlag. Vergrößern wir die Distanz erfolgreich durch Ausweichen nach hinten, geht der Angriff ins Leere. Können wir dann nicht fliehen oder einen erfolgreichen Gegenangriff setzen, hat der Gegner die Chance, einen weiteren Angriff zu starten. Wenn wir beim selben Angriff die Distanz verkürzen, sind wir auch nicht mehr dort, wo der Angriff mit voller Kraft gelandet wäre. Jetzt ist es allerdings notwendig, daß wir diese Distanzverkürzung mit einer Gegentechnik verbinden, die den Gegner davon abhält, weitere Angriffe starten zu können. Im Hapkido haben wir eine Vielzahl von Techniken, mit denen wir das bewerkstelligen können:
Schlag- und Stoßtechniken
Klassische Handtechniken, seltener Fußtechniken in der nahen Distanz, werden gleichzeitig mit der Distanzverringerung durchgeführt. Hier muss das Prinzip gelten, den Gegner mit der Technik direkt zur Aufgabe zwingen zu können, um nicht in einen wilden Schlagabtausch verwickelt zu werden, bei dem man ebenfalls schwer getroffen werden kann. Deswegen ist es wichtig, diese Techniken auf vitale Punkte anwenden zu können, wie es im Hapkido gelehrt wird.
Hebel- und Würgetechniken
Durch die Bewegung an den Angreifer haben wir die Möglichkeit, diesen durch geeignete Techniken zu fixieren. Hebeltechniken zwingen den Gegner in eine für ihn unangenehme Position, so daß er keine Gefahr mehr darstellt. Bei einer erfolgreichen Würgetechnik (choke) verliert der Gegner gar das Bewusstsein. Wichtig ist die technisch gute Ausführung, damit der Angreifer wirklich fixiert ist. Ist dieser besonders stark oder aggressiv, kann das eine schwierige Aufgabe werden.
Wurftechniken
Wir bewegen uns unter den Schwerpunkt des Gegners oder stellen uns so, daß wir das Gleichgewicht brechen können, und den Gegner zu Boden bringen. Dies allein kann für einen ungeübten Angreifer schwere Verletzungen durch den Sturz bedeuten. Des Weiteren haben wir die Möglichkeit zu fliehen oder am Boden den Gegner zu fixieren.
Es gibt also bei der „Distanzverkürzung“ viele Möglichkeiten mit dem Gegner zu arbeiten. Entscheidend ist, daß wir schon vorher wissen, wie das denn aussehen soll. Es ist gut, sich da nochmal auf die Prinzipien des Hapkido zu konzentrieren:
- Prinzip des Kreises
- Prinzip des Flusses
- Prinzip der Einwirkung
Prinzip des Kreises (Yu)
Hapkido beruht auf natürlichen und harmonischen Bewegungen. Wir nutzen die Kraft von kreisförmigen Bewegungen, um Energien zu unserem Zwecke umzuleiten und dann zu erhöhen. So blocken wir Angriffe nicht, wir bewegen uns aus der Angriffsbahn und leiten den Angriff mit einer kreisförmigen Bewegung weiter. Wir nutzen also nicht unnötig unsere Muskelkraft und verbrauchen Energie, bleiben natürlich und entspannt und nuten die Energie des Gegners.
Prinzip des Flusses (Won)
Wir nutzen Energie. Die Kraft des Angreifers wird gegen ihn gewandt. Sie wird nicht gestoppt, sie wird weitergeleitet und mit unserer Energie potenziert und gegen ihn gewandt. Unsere Energie kommt von innen, sie ist das „Ki“. Als Hapkidoin lernen wir, unsere Energie durch Atemübungen freisetzen zu können.
Prinzip der Einwirkung (Hwa)
Wir wirken auf den Gegner ein, physisch wie psychisch. Wir lenken die Energie seines Angriffes gegen ihn selbst, zwingen ihn in eines Position und Situation, die er nicht möchte und vielleicht nicht ahnen konnte. Wir bewegen uns auf ihn zu, nehmen Verbindung mit ihm auf und bleiben dabei selbst entspannt. Dies hat eine nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung. Letztlich wirken wir so auf ihn ein, daß er seinen Angriff nicht erfolgreich durchführen kann und können wird.
In einer Kampfsituation kann das so aussehen: Der Angriff ist ein wilder Schlägerangriff. Wir verkürzen unsererseits die Distanz, nehmen die Angriffsenergie mit dem Arm auf, indem wir ihn zum Schutz anheben, um Kontakt zum Angriffsarm aufzunehmen. Fast gleichzeitig drehen wir unseren Körper ein, leiten den Angriffsarm durch Zug weiter um uns herum, und nutzen die wuchtige Energie des Angriffs letztlich zu einem Wurf über die eigene Hüfte. Der Gegner fliegt hart auf den Boden und ist perplex und desorientiert. Wir können aus der Situation fliehen. Hier finden sich alle Prinzipien in einer Verteidigung. Diese Prinzipien zu nutzen heißt, nicht die eigene Energie verbrauchen, sich nicht auf ein Kräftemessen einlassen, denn das kann in einer Selbstverteidigungssituation bedeuten, doch zu unterliegen, weil der Angreifer eventuell stärker ist. Wenn wir die Distanz zum Gegner schließen, um ihn zu kontrollieren und die Konfliktsituation zu beenden müssen wir unbedingt die Prinzipien des Hapkido verinnerlicht haben und die Techniken entsprechend richtig anwenden.
Diese „Flucht nach vorne“ ist also eine äußerst vielversprechende Möglichkeit, sich auch als augenscheinlich körperlich Unterlegender effektiv zu verteidigen, wenn sie konsequent durchgeführt wird (Kontrolle des Gegners) und dabei auch die Hapkido Prinzipien Anwendung finden.
Timo Meusel