Prof. Dr. Dr. med. Edlef Wischhöfer
„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die Euer Weisheit sich nicht träumen lässt“
(Shakespeare)
Gibt es Wunder?
Fragen Sie einen Kirchenmann und er wird sagen: Selbstverständlich, sehen Sie nur, jeder Heilige der katholischen Kirche hat ein Wunder vollbracht. Ein Wunder ist ein nicht erklärbares Ereignis, dass sich wissenschaftlich nicht erklären lässt. Da hatte Gott seine Hand im Spiel, es ist ein Wunder.
Fragen Sie einen Wissenschaftler und er wird sagen: Nein, Wunder gibt es nicht. Manchmal sind wir Wissenschaftler eben noch nicht so weit, Dinge erklären zu können, die uns wie Wunder vorkommen. Und manchmal genügt auch der normale Verstand nicht natürlich ablaufende Vorgänge zu erklären.
Eine wahre Geschichte
Und jetzt kommt dann noch meine wahre Geschichte aus dem Leben eines Arztes - Da können Sie dann selbst entscheiden, ob es noch Wunder gibt.
Ein halbes Jahrhundert ist es her. Ich schreibe die Geschichte aus dem Gedächtnis und ich versichere Ihnen, genau so hat es sich zugetragen. Ein etwa Dreißigjähriger Handwerksmeister aus dem Landkreis Weilheim- Schongau kommt in ein kleines Provinzkrankenhaus mit Magenproblemen, die auf konservative Maßnahmen nicht ansprechen. Schließlich entschließt sich der Chefarzt zu einer Operation am Magen. Ich darf dem Chefarzt assistieren. Nach Eröffnung des Bauchraumes finden sich am Magen eine tastbare Geschwulst und im gesamten Bauchraum hunderte kleiner Knötchen, die aussehen wie typische Tochterabsiedelungen beim Magenkrebs.
Ein Todesurteil!?
Mein Chefarzt will auf Nummer sicher gehen - Es wäre sinnlos den Magen mit dem Tumor zu entfernen, wenn es ein derart fortgeschrittenes Krebsstadium wäre. Die Entfernung würde die Restlebenszeit nur verschlechtern. Aber- wir sind in einem Provinzkrankenhaus ohne Möglichkeit der feingeweblichen Untersuchung. Der Chef schaut mich an: „Sie haben doch ein schnelles Auto. Ich nehme Gewebeproben und Sie fahren schnell nach München, geben Sie zur Untersuchung ab und kommen wieder zurück. In der Zwischenzeit lassen wir den Patienten in flacher Narkose bis das Ergebnis des „Schnellschnittes“ telefonisch durchgegeben wird. Je nach Ergebnis machen wir den Bauch wieder zu oder machen weiter. Ich eile mit den Proben nach München in das pathologische Institut am Schwabinger Krankenhaus. Ich bin angemeldet und werde schon erwartet, Die Gewebsproben wandern aus meiner Hand direkt in die Hand des Untersuchers. Irrtum ausgeschlossen. Nachdenklich fahre ich zurück. Leider, es ist Magenkrebs mit sogenannter Bauchfellverkrebsung. „Wir haben wieder zugenäht. Gut dass Sie wieder da sind, die Ehefrau wartet schon oben auf Ihrer Station und will Sie sprechen“.
Erst mal muss ich mich sammeln. Was soll ich der Ehefrau sagen? Wenn ich nicht die Wahrheit sage, holt mich die Lüge im nächsten halben Jahr ein. Ja und wie ist es mit der „Schweigepflicht“? Datenschutz und Schweigepflicht sind heute ein hohes Gut, dessen Missachtung strafrechtliche Folgen haben kann. In den 70er Jahren des 20. JH wurde in den Kliniken üblicherweise eine pervertierte Form der Schweigepflicht gehandhabt: Dem Betroffenen wurde oft die Wahrheit verschwiegen, „damit es ihm nicht schlechter geht“, während mit den Angehörigen der weitere Ausgang in der Regel offen besprochen wurde – obwohl sich die Schweigepflicht gerade auch auf diesen Personenkreis bezieht. Im Vorfeld war mit der Ehefrau besprochen worden offen alles zu besprechen – allerdings war von einem gutartigen Geschwür am Magen ausgegangen worden.
Mein Credo war immer die Wahrheit zu sagen aber die Hoffnung nicht zu nehmen, wenn die Wahrheit bitter war. Und letztlich auch immer noch zu betonen, dass auch wir Ärzte nicht wissen können, was die reale Wahrheit ist.
Die Ehefrau erwartet mich im Gang und will gleich wissen was los ist. Die Zeit der „Operation“ war relativ lang, so dass sie annahm ein größerer Eingriff habe stattgefunden. Ich bitte sie in zur Besprechung in das Arztzimmer um ihr einen Sitzplatz anbieten zu können. Als sie Platz genommen hat schildere ich die Situation wahrheitsgemäß. Sie reagiert verstört. “Mein Mann hat doch gerade erst sein Geschäft eröffnet, wir haben einen schulpflichtigen Sohn. Wie sollen wir das alles schaffen. Was soll ich nun tun? Wie kann ich sie trösten. Ihr Mann wird in ein paar Monaten sterben. Mit oder ohne Chemotherapie. Mit oder ohne Bestrahlung. Ende aller Weisheit? Schicksal?
Es wird ein schweres Gespräch. Für die Ehefrau und für mich. Als ich nicht mehr so recht weiter weiß, versuche ich Alternativen auf zu zeigen: „Fahren Sie mit ihrem Mann einfach fort in Urlaub. Machen Sie das, was sie schon immer einmal gemeinsam machen wollten“. „Gibt es denn noch Hoffnung?“ „Hoffnung gibt es immer. Aber nach allem was ich weiß, sind seine Chancen minimal. Aber sein Schicksal liegt in Gottes Hand“.
Ich habe den Patienten und seine Familie dann aus den Augen verloren, nachdem ich zweieinviertel Jahre als Assistenzarzt zur Weiterbildung in der Schweiz war. Von dort bin ich dann noch einmal für ein Jahr an dasselbe Krankenhaus zurückgekehrt, in dem damals dieser Handwerksmeister operiert worden war. Eines Tages hilft eine Anästhesistin aus, die in der Nähe des ca. 30 Kilometer entfernten Handwerksmeisters wohnt und frägt mich.
„Können Sie sich noch an den Handwerksmeister mit dem Magenkrebs erinnern.“ „Wie könnte ich ihn je vergessen“, sage ich.
Und dann erzählt sie mir etwas Verblüffendes: Dieser Handwerksmeister habe bald nach der Operation am Magen eine neue Herzklappe in München erhalten. Man habe natürlich die Krankengeschichte mit dem Magenkrebs gekannt und vermutet, ob nicht vielleicht das Gewebspräparat doch verwechselt worden sein könnte. „Nein“, sage ich - ganz sicher nicht! Ich habe das Präparat persönlich in das Gefäß eingebracht und ich habe es persönlich damals in der Pathologe München-Schwabing abgegeben. Es wurde sofort weiterverarbeitet. Es kann gar nicht verwechselt worden sein. Ja, das sei allerdings seltsam. Herr L. habe nach seiner Entlassung einen hochfieberhaften Infekt erlitten, von dem er sich nur schwer erholt habe. Im Rahmen dieses Infektes habe er dann eine defekte Herzklappe entwickelt, die dann in der Herzklinik ersetzt worden sei. Dies war für mich ein Schlüsselerlebnis: In der Folgezeit bin ich sehr vorsichtig geworden bei der Aufklärung von „Todkranken“. Getreu den Worten meines verehrten Mentors und Lehrers Professor Rudolf Berchtold, Bern:
„Wenn Sie jemanden aufklären, sagen Sie immer die Wahrheit!
Aber was ist schon die Wahrheit? Und wieviel von der Wahrheit verträgt der Mensch?“ Oft habe ich darüber nachgedacht, ob ich den Patienten von damals kontaktieren sollte. Als ich dann in Altersrente ging – also fast dreißig Jahre später, im Oktober 2006 habe ich ein längeres Gespräch mit dem Sohn und der Ehefrau von Herrn L. geführt. Herr L. war mittlerweile 67 Jahre alt und lebte immer noch. Der Sohn berichtete mir, dass sein Vater bald nach dieser Probe-Baucheröffnung mit erwiesenem Krebs ein akutes rheumatisches Fieber mit Spitzen von 40-41°C über einen Zeitraum von acht Tagen durchlitten habe. Später sei er dann so schwach und vom Herzen her so krank geworden, dass er mit dem Hubschrauber in die Herzklinik nach München geflogen wurde. Dort habe man die „ausgefranste“ defekte Aortenklappe ersetzt. Zwei Jahre später habe er einen schweren PKW-unfall erlitten mit Beckenbruch, wobei er eine Woche im Koma gelegen habe. Letztendlich habe er sich davon aber auch erholt. Schließlich musste vor neun Jahren dann auch noch wegen eines Nierenkrebses eine Niere entfernt werden.
Seine Ehefrau hat Tagebuch geführt. Das Gespräch mit mir nach der Operation hat sie als „brutal“ in Erinnerung: Ich habe sie zwar gebeten sich zu setzen und habe ihre Hand gehalten und gestreichelt aber sie in zwei Sätzen mit der vernichtenden Diagnose und der Prognose konfrontiert, dass ihr Mann nur noch wenige Monate zu leben habe. Sie habe mich dann gebeten, ihrem Ehemann nicht die „Wahrheit“ zu sagen. Sie habe meinen Rat angenommen und habe mit ihrem Mann einen Urlaub in Ibiza verbracht. Zurückgekommen habe sie kein „normales Leben“ mehr führen können: Die Angst vor der Zukunft. Die Schulden mit dem neuen Haus, die Perspektive auf das Ende. So habe sie mit dem Gedanken gespielt Selbstmord zu begehen. Ihrem Ehemann habe sie das alles nicht anvertraut. Bald nach dem Urlaub - der genaue Zeitrahmen ist nicht klar - hat ihr Mann dann mit der Fiebererkrankung begonnen. Im Rahmen dieser Fiebererkrankung erfolgte stationäre Aufnahme in einem anderen Krankenhaus. Dort wurde dann der Magen gründlich untersucht, wobei keinerlei Hinweis auf irgendeine Erkrankung zu finden war. Daraufhin ist man – weil nicht sein kann - was nicht sein darf - davon ausgegangen, dass die Ärzte in dem vorherigen Krankenhaus im Vierseenland das Präparat eben verwechselt haben mussten.
Von diesem Moment an habe sie nur noch Zorn und Wut verspürt wenn sie an die damalige Aufklärung denken musste. Hass gegen den, der sie so „falsch“ aufgeklärt hat, der ihr in so wenigen Minuten in harten Sätzen eine Zukunft in Aussicht stellte, die sie beinahe in den Tod getrieben hätte. Frau L. ist auch überzeugt davon, dass ihr Mann nicht mehr leben würde, wenn er damals die vernichtende Diagnose erfahren hätte. In meiner Erinnerung hat sich das Aufklärungsgespräch vor 32 Jahren anders abgespielt als in der Erinnerung von Frau L. Aber das ist ganz natürlich. Sie ist die eigentlich Betroffene. Nicht ich. Ich - als damals junger Assistenzarzt in der Weiterbildung ohne psychologische Schulung für die Führung eines solch schwierigen Gespräches war mit Sicherheit überfordert gewesen. Sicher - ich habe versucht mein Bestes zu geben - habe ihre Hand genommen, habe versucht sie zu trösten und ihr geraten sich einfach noch eine schöne Zeit mit ihrem Mann zu gönnen. Und war noch im Glauben, es so gut wie möglich gemacht zu haben. Welch ein Irrtum! Immer dann, wenn es in der Zukunft um Prognosen der Lebenserwartung ging, habe ich an den Handwerksmeister L. gedacht und versucht den Angehörigen mehr als einen Funken Hoffnung zu geben.
Heute gibt es eine ganze Reihe von Berichten über verbürgte Spontanheilungen beim Krebs. Wahrscheinlich spielte dabei die hochfieberhafte Erkrankung eine entscheidende Rolle, ist doch Hyperthermie (Ganzkörpererhitzung in Narkose) eine alternative Methode der Krebsheilung. Ich bin davon überzeugt, dass es sich auch bei Herrn L. um eine Spontanremission nach Hyperthermie handelte.
Aber wie gesagt, die Meinungen gehen hier auseinander. Zwischen Fehldiagnose - Irrtum – Spontanremission – Wunder und Dingen von denen wir nicht einmal träumen können ist alles möglich.
Anmerkung der Redaktion: Personennamen wurden aus Datenschutzgründen verändert
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