Der junge, 26-jährige, lebenslustige Mann war verzweifelt. Man hat ihm gesagt, er sei unheilbar krank mit absehbarer Lebenserwartung. Nein, kein Krebs – aber nicht weniger aggressiv. Die niederschmetternde Diagnose wurde im Herbst 1975 am Kantonsspital in Basel nach einer Probeeröffnung des Bauchraumes gestellt. Inoperabel. Offensichtlich. Beide Leberlappen waren von Larven des kleinen Fuchsbandwurms (Echinococcus alveolaris) durchsetzt. Unbehandelt verliert dadurch die Leber als zentrales Stoffwechselorgan zunehmend seine Funktion. Und die Larven wachsen weiter, wenn auch langsam – ähnlich wie ein Krebsgeschwür. Die Entfernung beider Leberlappen wäre mit dem Leben nicht vereinbar. Die Teilentfernung eines Leberlappens wiederum kann nicht zur Heilung führen, da die Zerstörung des ebenfalls infizierten anderen Leberlappens fortschreiten würde, so dass es letztlich zum Zusammenbruch der Leberfunktion und damit zum Tode führe. Eine Operation sei sinnlos. Das alles hatte man dem jungen Mann so mitgeteilt. Das Problem der Abstoßungsreaktion bei Lebertransplantation war noch nicht gelöst. Die erste Lebertransplantation in der Schweiz wurde erst 1983 am Inselspital in Bern durchgeführt.
War der junge Mann zum Sterben verurteilt?
In seiner Verzweiflung wandte er sich an den damaligen chirurgischen Leberpapst der Schweiz an der Universität in Bern. Mein damaliger Chef untersuchte den jungen Mann sorgfältig. Er machte erneute Tests und vor allem aber dachte er nach. Und genau das machte seinen Genius aus: Eine Lösung zu suchen für ein Problem bei dem andere Spezialisten aufgegeben hatten; Darum verehrte ich ihn. Kurze Zeit später steht der junge Mann auf dem OP-Plan und ich habe den Vorzug meinem Chef assistieren zu dürfen. Im Waschraum vor dem OP-Saal stehen wir nebeneinander und waschen und bürsten uns die Hände und Nägel. Das ist eigentlich ein heiliger Moment. Ein Moment der Stille und Ruhe in dem der Operateur in Gedanken die Schritte im Operationsfortgang durchgeht als mich mein Chef fragt:
„Sagen Sie, kennen Sie
die Sage von Prometheus?“
Ich denke kurz nach, das Gedicht, das ich in der Schule gelernt hatte, fiel mir ein und ich antworte: „Prometheus war doch derjenige, der verbotenerweise den Menschen das Feuer schenkte und deshalb von seinem Vater Zeus zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet wurde“. „Ja, das ist richtig“, sagte mein Chef, „aber zur Strafe für die Missachtung gehörte auch, dass jeden Tag ein Adler angeflogen kam und ihm die Leber aus dem Leib pickte“. Aber - und dies ist nun die geniale gedankliche Verknüpfung zu unserem Patienten und der Operation - Prof. Berchtold fragte mich rhetorisch: „Warum konnte der Adler dies täglich tun?“ und beantwortete seine Frage sogleich selbst: „Er konnte dies, weil die Leber jeden Tag nachgewachsen war! So schnell wird es bei dem jungen Mann nicht gehen, aber ich denke es wird reichen. Entscheidend wird sein, ob die Leberwurzeln befallen sind oder nicht. Darum machen wir heute noch einmal die Probeeröffnung des Bauchraumes.“ Prof. Berchtold war der Leberspezialist - und so wusste er, dass eine gesunde Leber ein ungeheures Regenerationsvermögen hat. Er erklärte mir: „Wenn ich in einem Eingriff zunächst den einen befallenen Leberlappen entferne einschließlich aller befallenen Areale, wird dieser Leberlappen innerhalb von drei bis sechs Monaten wieder nachwachsen. Zwar würden die Zysten des Fuchsbandwurms im noch verbliebenen anderen Leberlappen tumorartig weiterwachsen. Das Wachstum in der verbleibenden Zeit war jedoch voraussehbar. Ja, so müsste es doch möglich sein den jungen Mann zu retten und auch zu heilen. Sobald sich der vom Fuchsbandwurm befreite Leberlappen regeneriert hat, kann dann in einem weiteren zweiten Eingriff auch der befallene zweite Lappen entfernt werden.“ Und so hat es Professor Berchtold dann auch gemacht. In zwei Sitzungen. Mit einer schwierigen Intensivphase dazwischen, in welcher der junge Mann auf der Intensivstation im Leberkoma mit dem Leben kämpfte. Aber letztendlich hatte er es tatsächlich geschafft. Er war geheilt. Ich durfte bei beiden Operationen dabei sein. Da war mein Lehrer konsequent und vielleicht auch ein bisschen eitel. Mir, dem jungen chirurgischen Assistenten zeigen zu können, dass er alles richtig gedacht und gemacht hatte. Für mich war es faszinierend zu erkennen, dass es einerseits das manuelle Geschick des Chirurgen für die rein handwerkliche Tätigkeit braucht, aber eben auch die vorausschauende geniale Idee dahinter. Gerade zu unglaublich war es für mich bei der zweiten Operation den regenerierten Leberlappen anzusehen und die Leber von frischer hellbrauner Farbe und einer Größe, die dem ursprünglichen Lappen entsprach. Und zu erkennen, dass ich bei etwas Großartigem dabei sein durfte. Etwas was es zuvor noch nie gegeben hatte. So war mein Lehrer Berchtold: Die Chirurgie fing für ihn dort an, wo sie für andere bereits aufgehört hatte.
Prometheus
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
mit Wolkendunst!
Und übe dem Knaben gleich, der Disteln köpft,
an Eichen dich und Bergeshöh’n;
Mußt mir meine Erde doch lassen steh’n,
und meine Hütte, die du nicht gebaut,
und meinen Herd, um dessen Glut
Du mich beneidest. (erste Strophe)
J.W. von Goethe
Mariendistel – Heilpflanze für die Leber (im Bild)