von PD Dr. med. Dipl.- Inform. (FH) Lorenz Ertl (le)
Das Leben stellt uns immer wieder vor Herausforderungen und Entscheidungen. Es gibt einfache Entscheidungen, manchmal müssen aber auch komplexe Entscheidungen mit hoher Wirkungskraft unter Zeitdruck getroffen werden. Dies gilt insbesondere für bestimmte Arbeitsumgebungen in Hochrisiko- / Hochsicherheitsbereichen, wie z.B. in der Luftfahrt, in der Medizin, bei der Feuerwehr, im taktischen Umfeld oder auch in bestimmten Industrie-bereichen.
Die zentrale Herausforderung ist in solchen Situationen…
• eine oft sehr komplexe Technik richtig anzuwenden,
• dargebotene Informationen rasch und richtig zu erfassen,
• das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen und…
• adäquat zu reagieren, das heißt, in der jeweiligen Situation die richtige Entscheidung zu treffen.
Retrospektive Analysen von Zwischenfällen ergaben, dass der Mensch selbst – und nicht etwa technisches Versagen - der wichtigste Faktor bei deren Zustandekommen ist.
Geht etwas schief, hilft die nachträgliche Suche nach einem Schuldigen nicht für die Zukunft. Der Begriff „menschliches Versagen“ ist bei einer Fehleranalyse in keiner Weise zielführend, denn er stellt nur eine inhärente Anschuldigung dar, eröffnet aber keine Chance die Fehlerwahrscheinlichkeit positiv zu beeinflussen.
Menschen machen Fehler! Die Frage ist nicht ob, sondern nur unter welchen Umständen wir Fehler machen und wie sich diese auswirken. Menschliches Verhalten in komplexen und risikobehafteten Situationen ist interessanterweise sehr ähnlich und unabhängig vom beruflichen Umfeld. [1]
In der Regel ist es nicht eine einzelne Entscheidung, die einen Unfall oder ernsten Zwischenfall herbeiführt. sondern eine Verkettung vieler Faktoren. Es handelt sich letztlich um ein Systemversagen. In der Luftfahrt wurde hierfür ein detailliertes Klassifikationssystem („HFACS – Human Factors Analysis and Classification System“) entwickelt. [2] Bei der Analyse von Flugunfällen hat man heute den Begriff „Pilotenfehler“ überwunden und spricht stattdessen von „menschlichen Faktoren“ (Human Factors).
Unter dem Begriff „Human Factors“ werden alle Variablen zusammengefasst, die die Sicherheit und Leistungsfähigkeit des Menschen bei seiner Entscheidungsfindung in komplexen Situationen bestimmen. Grundsätzlich können dies positive (der Sicherheit förderliche) oder negative (die Sicherheit limitierende) Eigenschaften sein. Man kann zwischen individuell-kognitiven Faktoren (Entscheidungsfindung, Situationsbewusstsein, eingeschränkte Fähigkeit zum „multi tasking“ usw.) und mehr interagierenden, kooperativen Teamfaktoren (Kommunikation, geteilte mentale Modelle usw.) unterscheiden. Einzelne Faktoren sind direkt leistungsbeeinflussend, wie z.B. Müdigkeit, Krankheit oder Lärm, etc. [3]
Je nachdem wie das Gesamtsystem und die „Human Factors“ beschaffen sind, steigt oder sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entscheidung (a) falsch getroffen und (b) fatale Auswirkungen hat. Es gibt hochgradig fehleranfällige Systemkonstellationen (sog. „error prone constellations“) und dies sind quasi immer gleich: fatale Fehler passieren im sprichwörtlichen „Nebel“. (Abb. 1)
Dieser Nebel kommt nicht plötzlich, sondern zieht herauf und schränkt die Sicht immer mehr ein, bis ein „Eisberg“ nicht mehr rechtzeitig erkannt wird: es wird in der Krisensituation die eine, finale und fatal-fehlerhafte Entscheidung getroffen.
Ein häufiger Grund für eine inadäquate Entscheidungsfindung liegt in subjektiv zu stark empfundenen Zeit-, Entscheidungs- und Handlungsdruck. Man meint sofort reagieren zu müssen und allein durch sein Handeln – egal wie – bereits das Richtige getan zu haben. In der Realität kommt es bei solchem Verhalten aber oft zu Fehlern und gravierenden Versäumnissen. [3]
Zum Glück aber gilt: wir Menschen haben durch Analyse, Lernen und intelligente Planung die Möglichkeit unsere Umgebung und uns selbst positiv zu beeinflussen. Wir können die Einzelfaktoren, aus denen der Nebel entsteht, minimieren. So kann beispielsweise durch gute Flugplanung und sicherheitsbewusste Wartungsintervalle verhindert werden, dass ein Flugzeug in eine kritische Situation kommt. Ein ausgeruhtes, motiviertes und gut trainiertes Team wird in der Regel bessere Entscheidungen treffen als ein übermüdetes, gestresstes und unterbesetztes.
Reason veröffentlichte in diesem Zusammenhang das sog. „Schweizer Käse- Modell“. [1] Es besagt, dass latente Fehler eines Systems lange vor einem widrigen Ereignis auf der Führungs- und Organisationsebene angelegt sind, bevor sie - zusammen mit ungünstigen Umständen und durch unsichere Handlungen einzelner Personen (aktives Versagen) - zum einem Unfall führen. Reason vergleicht Sicherheitsebenen mit hintereinanderliegenden Käsescheiben. Die Löcher im Käse verdeutlichen Schwachstellen und können bei einer ungünstigen Kombination dazu führen, dass ein einzelner Fehler eine fatale Wirkung entfaltet. [1] [4]
Prävention und Management von schwierigen Situationen kann man also planen und lernen (und muss es auch)!
In der Luftfahrt haben sich hierzu seit vielen Jahrzehnten spezielle Trainingsprogramme - sog. „Crew Ressource Management Trainings“ (CRM) - etabliert. In CRM-Trainings lernen und üben die Teilnehmer die Einflüsse der „Human Factors“ zu erkennen und zu steuern. Diese und ähnliche Trainingskonzepte wurden zunehmend in anderen Hochrisiko -/ Hochsicherheitsbereichen (z.B. in der Akutmedizin) übernommen und entsprechend angepasst. Diese adaptierten Trainingskonzepte (z.B. in der Medizin) werden zwar nicht immer umfassend evaluiert und auch die Begrifflichkeiten werden nicht immer einheitlich verwendet [5] - dennoch kann der Soll-Zustand eines funktionierenden Crew Resource Management Konzepts in etwa wie folgt beschrieben werden: [6]
Kommunikation
Das Team ist in der Lage klare Aufträge und Auskünfte zu erteilen, anzunehmen und nützliches Feedback anzubieten.
Workload Management, Briefing, Missionsplanung
Das Team hat die Fähigkeit unter Berücksichtigung aller Ressourcen, Aktivitäten und Informationsflüsse Aktionspläne zu erstellen. Alle Aufgaben werden in einer integrierten und synchronisierten Weise erledigt.
Unterstützendes Verhalten
Die Teammitglieder schaffen es die Bedürfnisse der anderen Beteiligten vorauszusehen. Die genaue Aufteilung der jeweiligen Verantwortungsbereiche und Aufgaben ist bekannt und wird klar kommuniziert. Die Aufgabenverteilung kann trotz einer hohen Arbeitsbelastung flexibel angepasst und umverteilt werden.
Gegenseitiges Beobachten
Das Team als Ganzes schafft es, die Leistung der einzelnen Beteiligten zu überwachen, indem untereinander konstruktives Feedback gegeben, eingeholt und angenommen wird.
Team-Führung
Ein/e Gruppenleiter/in koordiniert die Tätigkeiten des Teams, ermutigt zur Zusammenarbeit und beurteilt die jeweiligen Leistungen. Er /Sie stellt sicher, dass das Team über einen guten Wissensstand und über gute Fähigkeiten verfügt, motiviert, plant, organisiert und sorgt für eine positive Arbeitsatmosphäre.
Entscheidungsfindung
Die Teammitglieder sind in der Lage, Informationen einzuholen und miteinander zu teilen. Sie entscheiden logisch und verständlich, und sie identifizieren alternative Handlungsmöglichkeiten sowie deren Konsequenzen. Auf dieser Grundlage entscheiden sie sich für die beste Handlungsweise.
Rall & Gaba veröffentlichten 15 CRM-Leitsätze, die o.g. Sollzustand in Form konkreter Handlungsanweisungen praktisch anwendbar machen: (Tabelle 1) [7]
Tabelle 1 - Die 15 CRM-Leitsätze (nach Rall/Gaba [7])
1. Kenne Deine Arbeitsumgebung.
2. Antizipiere und plane voraus.
3. Hilfe anfordern, lieber früh als spät.
4. Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied mit Beharrlichkeit.
5. Verteile die Arbeitsbelastung.
6. Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen (Personen und Technik).
7. Kommuniziere sicher und effektiv – sag was Dich bewegt.
8. Beachte und verwende alle vorhandenen Informationen.
9. Verhindere und erkenne Fixierungsfehler.
10. Habe Zweifel und überprüfe genau („double check“, nie etwas annehmen).
11. Verwende Merkhilfen und schlage nach.
12. Reevaluiere die Situation immer wieder.
13. Achte auf gute Teamarbeit – andere unterstützen und sich koordinieren.
14. Lenke Deine Aufmerksamkeit bewusst.
15. Setze Prioritäten dynamisch.
Unter einem „Fixierungsfehler“ (Leitsatz Nr. 9) versteht man die Tendenz seine innere Erwartungshaltung der objektiven Bewertung äußerer Informationen vorzuziehen. Wichtige Umstände oder Befunde werden ohne kritische Plausibilitätsprüfung innerlich „abgehakt“, negiert oder einfach unterstellt.
Um die CRM-Leitsätze mit Leben und Sinn zu füllen, sind intensive Beschäftigung, praktische Übung und Anwendung notwendig, denn: professionelle Leistungen auf höchstem Niveau können nur von Teams erwartet werden, die regelmäßig trainieren.
Alles andere ist Glück oder Zufall. („Dream teams are made – not born!”) [3]
Menschliche Höchstleistungen sind in der Regel das Resultat jahrelangen intensiven Trainings - egal ob im Sport, in der Medizin, in der Fliegerei oder in der Kunst und die besten Experten sind die, die stundenlang gerade diejenigen Dinge trainierten, die am schlechtesten funktionierten („deliberate practice“). [3] Im (Kampf-) Sport ist uns dieses Prinzip aus vielen Trainingseinheiten nur allzu gut bekannt und insofern kombinieren sich hier westlich-wissenschaftliche Methodik mit fernöstlich-alter Weisheit:
Die Harmonie des Individuums mit seiner Umgebung (= ein gutes Team), Kontinuierliches Training nach innen und außen und das richtige Mindset setzen im entscheidenden Moment ungeahnte Kräfte und Potentiale frei und lassen uns schwierige Situationen souverän meistern!
Literatur:
[1] Reason J. The contribution of latent human failures to the breakdown of complex systems. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 1990;327(1241):475-484. doi:10.1098/rstb.1990.0090
[2] Wiegmann DA, Shappell SA. Human error analysis of commercial aviation accidents: application of the Human Factors Analysis and Classification system (HFACS). Aviat Space Environ Med. 2001;72(11):1006-1016.
[3] Rall M, Lackner CK. Crisis Resource Management (CRM) - Der Faktor Mensch in der Akutmedizin, Notfall Rettungsmed 2010; 13:349–356
[4] Reason J. Human error: models and management. BMJ. 2000;320(7237):768-770. doi:10.1136/bmj.320.7237.768
[5] Gross B, Rusin L, Kiesewetter J, et al. Crew resource management training in healthcare: a systematic review of intervention design, training conditions and evaluation. BMJ Open. 2019;9(2):e025247. Published 2019 Mar 1. doi:10.1136/bmjopen-2018-025247
[6] Salas, Prince, Bowers, Stout, Oser, Cannon-Bowers. A methodology for enhancing crew management training. Human Factors (1999); 41:163.
[7] Rall M, Gaba DM. Human performance and patient safety. In: Miller RD (Hrsg.) Miller’s Anesthesia. Elsevier Churchhill Livingstone, Philadelphia (2009); 93–150
PD Dr. med. Dipl.-Inform. (FH) Lorenz Ertl wirkte während seines Studiums an der Entwicklung von CRM-Trainings in der Luftrettung mit und wandte deren Grundsätze in seinem späteren beruflichen Umfeld – der interventionellen Neuroradiologie – mit guten Erfahrungen an. PD Dr. Ertl praktiziert als niedergelassener Facharzt für Radiologie & Neuroradiologie in Augsburg und Landsberg am Lech (www.h15-radiologie.de).