Als ich eingeladen wurde, in meiner Eigenschaft als Psychologin, I Ging-Kennerin und Taekwondo-Praktizierende, einen Artikel für dieses Magazin zu verfassen, war ich zunächst ein wenig ratlos, worüber ich da denn schreiben soll. Doch bevor ich mir in so einem Fall lange den Kopf zermartere, befrage ich das alte chinesische Buch der Wandlungen. Das I Ging gab mir den Rat, das Hexagramm 46 zum Thema zu machen: DAS EMPORDRINGEN, mit den Wandellinien 1, 3, und 6.
Tatsächlich ist es außerordentlich einfach, einen Zusammenhang zwischen der Kampfkunst und dem Empordringen herzustellen, denn schließlich ist Empordringen genau das, was wir tun, wenn wir uns durch konsequentes Trainieren vom ahnungslosen Weißgurt bis zum ersten Meistergrad und vielleicht noch weiter hocharbeiten. Dieses Empordringen und Großwerden macht Arbeit, es kostet viel Schweiß (und manchmal auch Tränen), aber da diese Arbeit nicht fremdbestimmt, sondern von uns gewollt ist, fühlt sie sich sinnvoll und gut an. Überspringen lässt sich in dieser „Karriere“ nichts, und wer es ernst meint, der versucht auch nicht, irgendwelche Abkürzungen zu finden. Denn falls es welche gibt, dann sind sie immer eine Frage von Äußerlichkeiten, der Inhalt lässt sich nicht korrumpieren! (Man stelle sich nur mal einen blutigen Anfänger vor, der sich den schwarzen Gürtel umdrapiert – auf einem Foto mag er damit punkten, aber sich selbst kann er nichts vormachen. Und sollte er sich damit wirklich in die Praxis wagen, erwarten ihn nur Misserfolge, Blamagen und blaue Flecken. - Am Ende tut es immer weh, wenn man sich größer macht als man ist…)
Die ehrliche Arbeit des Empordringens erlaubt eben keinen triumphalen Durchmarsch. Ihr Wesen ist Demut und Zähigkeit. Das I Ging wählt dafür das Bild eines Baumschösslings, der nach seinem unsichtbaren Auskeimen im Dunkel der Erde seinen Weg nach oben nimmt, und zwar unbeirrbar, immer am Licht orientiert, egal, was sich ihm in den Weg stellt: „Never quit“. Für das anfangs so zarte Pflänzchen bedeutet das viel Mühe und beharrliches Dranbleiben. Andererseits bekommt es aber auch jede Menge Unterstützung - Wasser, Nährstoffe, Sonne… - die Natur will ja, dass es wächst, nur muss es beweisen, dass es das selbst auch will und kann, dass es widerstandsfähig und lebenstüchtig ist!
Das ist auch die Herausforderung für jeden Frischling in den Kampfkünsten. Er beginnt ganz unten und muss von der Pike auf lernen, sich nach den Regeln seiner Kunst zu bewegen. Und natürlich gilt es, die physischen Voraussetzungen zu schaffen, um die Technik gelungen einsetzen zu können – Geschmeidigkeit, Muskulatur, Kondition, Balance… Neben dem Körper ist auch der Kopf gefordert: Gedächtnis, Koordination, Konzentration... Auch damit nicht genug: Denn jeder Kampfkunstschüler muss auch noch klar kommen mit den Vereins- kameraden, mit der Autorität und Persönlichkeit des Meisters, mit den Regeln und Ritualen des Metiers. Und nicht zuletzt: Er muss mit sich SELBST klarkommen, mit seinen Eigenheiten, Möglichkeiten und Grenzen - das ist sogar die größte und wichtigste Aufgabe, die sich stellt!
Wenn der Schüler sich den entschlossenen Baumschössling zum Vorbild nimmt, dann wird er zu seiner vollen Größe heranwachsen, und zwar unabhängig davon, wie begabt er sich zunächst fühlt. Alleine schon mit dem Löwenherzen eines solchen Baumwelpen (sorry für das schräge Bild!) besitzt man die wichtigste Zutat für ein erfolgreiches Empordringen, eine Zutat, die sich dem Uneingeweihten aber geheim hält! Das lernte auch der zum Drachenkrieger berufene Kung Fu Panda, dem man seine Genialität weiß Gott nicht sofort ansieht! Die Geschichte des liebenswerten Po ist übrigens ein wunderbares Beispiel für das Empordringen: Man erinnere sich nur daran, wie er seine vielen Kilos die schier endlose Treppe zum Drachentempel hochschleppt... Aber er will es! Und dann eine Peinlichkeit, Niederlage und Abfuhr nach der anderen. Aber er will es! Und er beißt sich durch! Wo dieser unbeugsame Wille besteht, da geschieht Wachstum ganz von selbst.
Nun wird der vielzitierte „unbeugsame Wille“ von so manchem Kampfsportler massiv missverstanden: Da sehen wir Leute, die von ihrem Ehrgeiz geknechtet bis zum Umfallen trainieren, Leute, die die Warnsignale ihres Körpers übergehen, Leute, die die Ellenbogen ausfahren, um Platz für ihr großes Ego zu schaffen, Leute, die hart, verbissen und verkrampft werden... Das aber ist gewiss nicht im Sinne unserer Kunst, die es eher mit Laotse hält. Der Weise vom Berg weiß um die Macht des Nachgebens zur rechten Zeit. Immer wieder hält uns die chinesische Weisheitsliteratur das Bild des Bambus vor Augen, der die Elastizität besitzt, sich beugen, wo etwas stärker ist als er, um sich dann aber unversehrt in voller Größe wiederaufzurichten.
Wenn wir wirksam empordringen wollen, dann brauchen wir immer beides, Yin und Yang, Stärke und Nachgiebigkeit, jedes zu seiner Zeit und an seinem Ort! Das zu unterscheiden, braucht wiederum ein hohes Maß an Reife. Deshalb ist unsere Kampfkunst ja auch kein Sport, sondern ein Do (von Dao, Tao), ein Weg. Auf diesem Weg werden wir uns verändern, doch nicht einfach irgendwie oder so, wie unser Ego sich das vorstellt, sondern so, wie die Eichel zur Eiche heranreift: Die ganze Information für das Endziel ist von allem Anfang an in ihrem Erbgut vorhanden!
Genauso wächst unser Lebensbaum zu dem hin, was er von Anfang an in sich trägt. Und wie alles Lebendige, beginnt sein Wachstum von unten, bei den Wurzeln. Sie sorgen dafür, dass ihn nichts so leicht umwirft. Auch wenn es zumeist die ausgreifende Baumkrone ist, die unsere Bewunderung erregt, so wohnt die Stärke des Baumes doch in den verborgenen Wurzeln. Die wesentlichen Weichen werden abseits unserer Blicke gestellt - durch unsere Einstellung zu uns und der Welt: Was halten wir von uns selbst? Was ist der Mühe wert und aus welchem Grund? Was sind unsere Prioritäten?...
Als Schüler einer Kampfkunst führen wir tagtäglich das große Wort vom „Do“ im Munde, ohne es überhaupt zu bemerken: Taekwon-Do, Hapki-Do, Aiki-Do, Ju-Do… Für viele Praktizierende bleibt es leider eher beim Taekwon, Hapki, Aiko und Ju, und tatsächlich, das hat etwas Albernes und wenig Respekteinflößendes…
Denn was bedeutet es, einen Do zu gehen? Wie der zarte Eichensprössling müssen auch wir eine harte Schale sprengen - die Kruste unseres Egos. Der Do ist der Weg zu uns selbst, von dem uns unser Ego beharrlich ablenken will. Und wenn wir unseren Weg in den Budo-Künsten gehen, dann werden wir unserem Ego genau dort begegnen, in falschem Ehrgeiz, falschem Stolz, falscher Bescheidenheit... Es liegt im Wesen des Egos, dass es nie zufrieden ist. Und weil es uns größer sehen will als wir sind, ist es bereit, sich zu unglaublichen Kleinheiten zu erniedrigen...
Dabei hat jedes Stadium unseres Empordringens - als Weißgurt, Gelbgurt, Grüngurt, Blaugurt, Rotgurt, Schwarzgurt - seinen eigenen Wert. Macht es denn Sinn, einen Erstklässler an einem Abiturienten zu messen? Wer so vergleicht, schafft nur Konkurrenz, die dem gesunden Wachstumsprozess höchst abträglich ist. Schließlich ist auch jeder kleine Eichenschössling ein Unikat, hat ein spezifisches Erbgut und findet spezifische Bedingungen vor. Dasselbe in der Kampfkunst: Der eine ist groß und kräftig, die andere klein und zart, die eine biegsam, der andere ungelenk, einer springt wie ein Flummi, eine andere hat ungemein viel Bodenhaftung… Jeder und jede muss den EIGENEN Weg finden, der nur für diesen einen Menschen gilt! Abschauen bringt nichts!
Für diesen langen Weg brauchen wir neben unserer eigenen Motivation auch noch äußere Unterstützung: Deshalb müssen wir lernen, um Hilfe zu bitten, wir müssen uns etwas sagen lassen und offen sein, etwas auszuprobieren, was wir uns zuerst einmal schlecht vorstellen können. Auch hier wieder Yin und Yang: Förderung von außen, Zielsetzung von innen. Hat man nur äußere Gründe zum Trainieren, wird das Empordringen frühzeitig erlahmen. Eine echte Motivation, die aus dem Herzen kommt, hingegen wirkt wie Sonnenlicht, sie zieht uns quasi empor. Wenn ich meine Kampfkunst liebe, dann werde ich darin ganz von selbst immer besser. Dann werde ich in meinem persönlichen Tempo zu meiner vollen Größe heranwachsen, die ebenfalls eine ganz individuelle ist: Der eine ist als erster Dan ausgewachsen, der andere schraubt sich noch in ganz andere Dan-Höhen, und wieder ein anderer ist damit zufrieden, es beim Rotgurt zu belassen. Der eine findet in seiner Kampfkunst seine Berufung, der andere sieht sein Glück darin, auch noch andere Kampfkünste zu erlernen, der dritte ist heilfroh, wenn er zweimal pro Woche die Zeit findet, seinem geliebten Hobby nachzugehen. Jeder nach seiner Art, der Wege gibt es viele!
Ein echter Weg, ein echter Do führt immer zu mir selbst, zu meiner Wahrheit. Groß sein können wir nur, wenn wir in unsere eigene Form hineinwachsen – nicht in die Schuhe eines Anderen! Dazu muss ich mich engagieren und anstrengen, nicht aber vergewaltigen. Es geht um gesunde Zielstrebigkeit, nicht um Strebertum! Es geht um den Weg, den Do, nicht um das Ziel. Das Ziel zeigt uns nur die Richtung - so wie der Polarstern, der über Jahrtausende hinweg den Menschen half, sich zu orientieren, und zwar ganz ohne, dass sie deshalb zu den Sternen aufsteigen mussten!