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Was ist das Schwerste von allen,


 was dir das Leichteste dünkt.   sogleich selbst: „Er konnte dies, weil die Leber   einerseits das manuelle Geschick des Chirur-
          jeden Tag nachgewachsen war! So schnell wird          gen für die rein handwerkliche Tätigkeit
 Mit den Augen zu sehen, was vor dir liegt.   es bei dem jungen Mann nicht gehen, aber ich   braucht, aber eben auch die vorausschauende
          denke es wird reichen. Entscheidend wird sein,        geniale Idee dahinter. Gerade zu unglaublich
 J.W. von Goethe  ob die Leberwurzeln befallen sind oder nicht.   war es für mich bei der zweiten Operation den
          Darum machen wir heute noch einmal die                regenerierten Leberlappen anzusehen und die
          Probeeröffnung des Bauchraumes.“ Prof.                Leber von frischer hellbrauner Farbe und einer
          Berchtold war der Leberspezialist - und so            Größe, die dem ursprünglichen Lappen ent-
          wusste er, dass eine gesunde Leber ein unge-          sprach. Und zu erkennen, dass ich bei etwas
          heures Regenerationsvermögen hat. Er erklärte         Großartigem dabei sein durfte. Etwas was es
 Prometheus  mir: „Wenn ich in einem Eingriff zunächst den      zuvor noch nie gegeben hatte.
          einen befallenen Leberlappen entferne ein-
                                                                So war mein Lehrer Berchtold: Die Chirurgie
          schließlich aller befallenen Areale, wird dieser      fing für ihn dort an, wo sie für andere bereits
          Leberlappen innerhalb von drei bis sechs              aufgehört hatte.
          Monaten wieder nachwachsen. Zwar würden
          die Zysten des Fuchsbandwurms im noch                 Prometheus
 Prof. Dr. Dr. med. Edlef Wischhöfer (Text und Fotos)
          verbliebenen anderen Leberlappen tumorartig
          weiterwachsen. Das Wachstum in der verblei-           Bedecke deinen Himmel, Zeus,

 Der junge, 26-jährige, lebenslustige Mann war   sorgfältig. Er machte erneute Tests und vor   benden Zeit war jedoch voraussehbar. Ja, so   mit Wolkendunst!
 verzweifelt. Man hat ihm gesagt, er sei unheil-  allem aber dachte er nach. Und genau das   müsste es doch möglich sein den jungen Mann   Und übe dem Knaben gleich, der Disteln köpft,
 bar krank mit absehbarer Lebenserwartung.   machte seinen Genius aus:  Eine Lösung zu   zu retten und auch zu heilen. Sobald sich der   an Eichen dich und Bergeshöh’n;
 Nein, kein Krebs – aber nicht weniger aggres-  suchen für ein Problem bei dem andere Spezia-  vom Fuchsbandwurm befreite Leberlappen   Mußt mir meine Erde doch lassen steh’n,
 siv. Die niederschmetternde Diagnose wurde   listen aufgegeben hatten; Darum verehrte ich   regeneriert hat, kann dann in einem weiteren   und meine Hütte, die du nicht gebaut,
 im Herbst 1975 am Kantonsspital in Basel nach   ihn. Kurze Zeit später steht der junge Mann auf   zweiten Eingriff auch der befallene zweite   und meinen Herd, um dessen Glut
 einer Probeeröffnung des Bauchraumes ge-  dem OP - Plan und ich habe den Vorzug mei-  Lappen entfernt werden.“ Und so hat es Pro-  Du mich beneidest.      (erste Strophe)
 stellt. Inoperabel. Offensichtlich. Beide Leber-  nem Chef assistieren zu dürfen. Im Waschraum   fessor Berchtold dann auch gemacht. In zwei
 lappen waren von Larven des kleinen Fuchs-  vor dem OP-Saal stehen wir nebeneinander   Sitzungen. Mit einer schwierigen Intensivphase   J.W. von Goethe
 bandwurms (Echinococcus alveolaris)   und waschen und bürsten uns die Hände und   dazwischen, in welcher der junge Mann auf der
 durchsetzt. Unbehandelt verliert dadurch die   Nägel. Das ist eigentlich ein heiliger Moment.   Intensivstation im Leberkoma mit dem Leben
 Leber als zentrales Stoffwechselorgan zuneh-  Ein Moment der Stille und Ruhe in dem der   kämpfte. Aber letztendlich hatte er es tatsäch-
 mend seine Funktion. Und die Larven wachsen   Operateur in Gedanken die Schritte im Operati-  lich geschafft. Er war geheilt. Ich durfte bei
 weiter, wenn auch langsam – ähnlich wie ein   onsfortgang durchgeht als mich mein Chef   beiden Operationen dabei sein. Da war mein
 Krebsgeschwür. Die Entfernung beider Leber-  fragt:   Lehrer konsequent und vielleicht auch ein
 lappen wäre mit dem Leben nicht vereinbar.   bisschen eitel. Mir, dem jungen chirurgischen
 Die Teilentfernung eines Leberlappens wieder-  „Sagen Sie, kennen Sie  Assistenten zeigen zu können, dass er alles
 um kann nicht zur Heilung führen, da die    die Sage von Prometheus?“  richtig gedacht und gemacht hatte. Für mich
 Zerstörung des ebenfalls infizierten anderen   war es faszinierend zu erkennen, dass es
 Leberlappens fortschreiten würde, so dass es   Ich denke kurz nach, das Gedicht, das ich in
 letztlich zum Zusammenbruch der Leberfunkti-  der Schule gelernt hatte, fiel mir ein und ich
 on und damit zum Tode führe. Eine Operation   antworte: „Prometheus war doch derjenige,   unten: Mariendistel – Heilpflanze für die Leber
 sei sinnlos. Das alles hatte man dem jungen   der verbotenerweise den Menschen das Feuer
 Mann so mitgeteilt. Das Problem der Absto-  schenkte und deshalb von seinem Vater Zeus
 ßungsreaktion bei Lebertransplantation war   zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus ge-
 noch nicht gelöst. Die erste Lebertransplantati-  schmiedet wurde“. „Ja, das ist richtig“, sagte
 on in der Schweiz wurde erst 1983 am Insel-  mein Chef, „aber zur Strafe für die Missachtung
 spital in Bern durchgeführt.  gehörte auch, dass jeden Tag ein Adler ange-
 flogen kam und ihm die Leber aus dem Leib
 War der junge Mann zum Sterben verurteilt?  pickte“. Aber - und dies ist nun die geniale
 In seiner Verzweiflung wandte er sich an den   gedankliche Verknüpfung zu unserem Patienten
 damaligen chirurgischen Leberpapst der   und der Operation - Prof. Berchtold fragte mich
 Schweiz an der Universität in Bern. Mein da-  rhetorisch: „Warum konnte der Adler dies         oben: Gemälde - gemeinfrei
                                                                                             „Der gefesselte Prometheus“
 maliger Chef untersuchte den jungen Mann   täglich tun?“ und beantwortete seine Frage         von Peter Paul Rubens, 1612
                                                                                                Philadelphia Museum of Art

                                                                                               i
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 Y I D O   m i n d s e t
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